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Bürgerdialoge, kein Allheilmittel gegen Krise der Demokratie

Bürgerdialoge, kein Allheilmittel gegen Krise der Demokratie

  • Prof. André Bächtiger und Saskia Goldberg von der Universität Stuttgart zeigen im British Journal of Political Science, wie dialogische Bürgerforen auf Akzeptanz stoßen.

Ob Künstliche Intelligenz oder Opernhaus: Dialogische Bürgerforen (Mini publics), wo normale Bürger miteinander über politische Themen und Projekte beraten, sind im Aufwind. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) spricht gar von einer »globalen deliberativen Welle«. In Irland beispielsweise haben »Zufallsbürger« über die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe und die Legalisierung von Abtreibung diskutiert. Entsprechende Empfehlungen wurden von der Politik aufgenommen und anschließend in landesweiten Referenden von den Wählerinnen und Wählern bestätigt. Bei einigen Gruppierungen wie zum Beispiel der Klimaschutzbewegung »Extinction Rebellion« haben diese Erfolge den Wunsch geweckt, dialogischen Bürgerverfahren deutlich mehr Macht zu geben oder sie zu institutionalisieren.

Eine solche Entscheidungsmacht für Gremien, die nicht demokratisch legitimiert wurden, stößt aber auch auf Kritik. Denn oft umfassen Bürgerforen eben mal 30 bis 50 Mitglieder, und wer nicht zu dem Kreis gehört, kann nie wissen, ob die Teilnehmer die eigenen Werte und Interessen effektiv vertreten. Dies gilt umso mehr, wenn die teilnehmenden Bürger im Laufe des Dialoges ihre Meinungen ändern.

Vor diesem Hintergrund untersuchten Prof. André Bächtiger und Saskia Goldberg vom Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart im Rahmen des #DFG Projekt s »Perleg«, wie die Bürger selbst die Rolle von dialogischen Bürgerverfahren sehen. Besonders in den Fokus rückten die Forschenden dabei die ganz große Bevölkerungsmehrheit, die an solchen Foren nicht teilnimmt (und bei Losverfahren auch nicht teilnehmen kann). Würde diese es als legitim ansehen, wenn ihre Mitbürger für sie bindende Entscheidungen treffen würden? Um dies herauszufinden, legten Bächtiger und Goldberg mehr als 2.000 repräsentativ ausgewählten deutschen Bürgern in einem Umfrageexperiment Szenarien vor, wie dialogische Bürgerverfahren ausgestaltet sein müssen, damit sie bei den nicht teilnehmenden Bürgern Zustimmung erzeugen

Bindende Entscheidungen nicht erwünscht

Die Ergebnisse zeigen zunächst, dass der Durchschnitt der Deutschen eine Entscheidungsmacht in Form bindender Entscheidungen durch Bürgerforen ablehnen. Zudem möchten die Bürger, dass die Foren eng an die repräsentative Politik angebunden sind, und präferieren gemischte Foren mit Bürgern und politischen Akteuren. Zudem wünschen sie sich zusätzliche institutionelle Vorkehrungen, zum Beispiel durch eine hohe Teilnehmendenzahl und Empfehlungen mit klarer Mehrheit. Allerdings sind Bürger, die von der aktuellen Politik enttäuscht sind, offener für bindende Entscheidungen und eine Entkopplung der Foren von der repräsentativen Politik. »Insgesamt legt die Studie nahe, dass dialogische Bürgerforen kein Allheilmittel gegen die Krise der Demokratie sind«, so das Fazit von Saskia Goldberg und André Bächtiger. »Würden sie mit mehr Entscheidungsmacht ausgestattet, könnten sie diese Krise sogar noch verstärken.«

Praktische Empfehlungen

Die Studie beinhaltet auch eine Reihe praktischer Empfehlungen an Organisatoren von Bürgerforen: So sollte ein Forum zum Beispiel deutlich mehr als 100 Teilnehmer umfassen. Sehr wichtig sei zudem, dass die Teilnehmer im Losverfahren ausgewählt werden und nicht etwa durch offene Einladungen, da diese häufig dazu führen, dass vorrangig bereits privilegierte Gesellschaftsgruppen am Event teilnehmen. Hierbei sei zu beachten, dass die Fragen beispielsweise nach Anzahl und Selektion der Beteiligten keine Pauschalantworten zulassen, sondern immer vor dem Hintergrund der Zielsetzung, des Themas und dem Grad der Betroffenheit der Teilnehmenden beurteilt werden müssen.

Das Projekt Perleg (»Was sich Bürger von deliberativen Beteiligungsverfahren wünschen: Eine #Online Umfrage mit einem Präferenzexperiment zur Erfassung perzipierter Legitimitätsvorstellungen«) wird von Januar 2020 bis Juli 2022 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert (Projektnummer 432370948).

Originalpublikation

Saskia Goldberg und André Bächtiger, “Catching the ‘deliberative wave’? How (disaffected) citizens assess deliberative citizen forums”, British Journal of Political Science, März 2022

Universität Stuttgart

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