Kohärenz wird hauptsächlich durch das sendende Gehirnareal bestimmt, nicht durch das empfangende. Gleichzeitig liefert Kohärenz kaum Informationen darüber, ob tatsächlich Kommunikation stattfindet. Foto: C. Kernberger, ESI, Informationen zu Creative Commons (CC) Lizenzen, für Pressemeldungen ist der Herausgeber verantwortlich, die Quelle ist der Herausgeber
Kohärenz auf den Kopf gestellt
Als Marius Schneider seine Doktorandenstelle am Ernst Strüngmann Institut (ESI) für Neurowissenschaften antritt, würde er nicht einmal im Traum daran denken, dass die Ergebnisse seines ersten Projekts kurz darauf in einer der führenden Fachzeitschriften seines Fachs veröffentlicht werden – und eine etablierte Theorie auf den Kopf stellen …
»Die Idee kam schon vor einigen Jahren auf, aber vor uns hat sie noch keiner mathematisch ausformuliert und dafür experimentelle Beweise gesammelt“, sagt Marius Schneider. Er sitzt in der Bibliothek des Ernst Strüngmann Instituts (ESI) für Neurowissenschaften in Frankfurt am Main. Gemeinsam mit seinem Arbeitsgruppenleiter Martin Vinck lässt er ihre Erfolgsgeschichte Revue passieren. Im Dezember 2021 erschien ihr Artikel »A mechanism for inter-areal coherence through communication based on connectivity and oscillatory power« in der renommierten Fachzeitschrift Neuron.
#Kohärenz ist keine Voraussetzung für #Kommunikation
Doch von welcher Idee ist hier eigentlich die Rede? Bisher ging die Forschung davon aus, dass unterschiedliche Hirnbereiche besonders gut miteinander kommunizieren, weil Kohärenz, also gleiche Schwingungen (Oszillationen), ihre Verbindung verstärkt. Diese Oszillationen werden von Populationen von Neuronen erzeugt. Die Oszillationen wiederum erzeugen elektromagnetische Felder, die an der Kopfhaut oder im Gehirn mittels Elektroenzephalographie (EEG) gemessen werden können.
Marius Schneider, Martin Vinck und ihre Lab-Kolleg*innen haben diesen Ansatz nun auf den Kopf gestellt: In ihrem aktuellen Artikel entwickeln sie eine neue mathematische Theorie von Kohärenz und Kommunikation. Sie zeigen, dass Kohärenz einfach dadurch entsteht, dass einzelne Neuronen in einem Bereich aktiv sind und (synaptische) Impulse in anderen Bereichen erzeugen. Dies hat zur Folge, dass die elektrischen Signale in den einzelnen Bereichen auf vorhersehbare Weise kohärent werden. »Mit einer eleganten mathematischen Formel konnten wir zeigen, dass Kohärenz eine direkte Folge der anatomischen Verbindung zwischen zwei Hirnbereichen und der Signalstärke ist«, fasst Martin Vinck zusammen und betont: »Kohärenz ist keine Voraussetzung für Kommunikation!«
Ergebnisse in Rekordzeit dank Teamarbeit
Darüber hinaus stellten sie fest, dass Kohärenz hauptsächlich durch das sendende Gehirnareal bestimmt wird, nicht durch das empfangende. Und dass Kohärenz kaum Informationen darüber liefert, ob tatsächlich Kommunikation stattfindet. Dies kann mit der folgenden Szene verglichen werden: Eine Person läuft eine Straße entlang, plötzlich ruft jemand etwas auf der anderen Straßenseite. Vielleicht bleibt die Person stehen, weil sie etwas gehört hat. Vielleicht geht die Person weiter, weil sie die Sprache nicht verstanden und sich folglich nicht angesprochen gefühlt hat. Vielleicht gibt es keine Reaktion, weil ein vorbeifahrender #Lkw den Ruf übertönt. In allen Fällen wurde etwas gerufen, und die Geräusche auf den gegenüberliegenden Straßenseiten wurden miteinander in Verbindung gebracht. Aber nur aufgrund des Rufes kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Nachricht auch empfangen oder verarbeitet wurde. Und es bedeutet auch nicht, dass die Kohärenz der Mechanismus ist, durch den der Ton übertragen wird.
Um ihre #Theorie zu beweisen, wandten die beiden Neurowissenschaftler ihre Gleichungen auf eine große Anzahl bereits vorhandener Datensätze an. Ihre Lab Kollegen erhoben weitere Daten von Mäusen und Makaken, wobei sie neue Technologien wie Neuropixelsonden und Optogenetik, eine lichtgesteuerte Technik zur Steuerung der Aktivität von Neuronen, einsetzten. »Dies war eine echte Teamleistung! Ohne die Unterstützung und die großartige Arbeit aller Mitarbeiter unseres Labors wären wir niemals so schnell vorangekommen«, lobt Martin Vinck die Zusammenarbeit seiner Forschungsgruppe. »Das Ganze ist wirklich in Rekordzeit passiert«, ergänzt Marius Schneider und lässt seinen Blick durch die ESI Bibliothek schweifen. Damit bezieht er sich auf die Teamarbeit. Es trifft aber auch auf ihn zu und seine erste große Veröffentlichung als Doktorand.
Originalpublikation
M. Schneider, A. C. Broggini, B. Dann, A. Tzanou, C. Uran, S. Sheshadri, H. Scherberger, M. Vinck (2021), “A mechanism for inter-areal coherence through communication based on connectivity and oscillatory power”, “Neuron” 109 (24), 4050—4067 et 12, https://doi.org/10.1016/j.neuron.2021.09.037