Günter Wallraff, Petra Kusenberg. Foto: »TVNOW«, Informationen zu Creative Commons (CC) Lizenzen, für Pressemeldungen ist der Herausgeber verantwortlich, die Quelle ist der Herausgeber
Schnell, unkompliziert und direkt an die Haustür – Online-Shopping boomt, gerade in Zeiten von Corona. Einer der Hauptprofiteure: Amazon. Der Konzern konnte seinen Gewinn verdreifachen. Weltweit bestellen 300 Millionen Kunden bei Amazon. 158 Pakete verschickt der Versandhändler pro Sekunde. Die »Prime«-Angebote garantieren eine Lieferung noch am selben Tag. Doch das hat seinen Preis! Drei »Team Wallraff«-Reporter recherchierten monatelang undercover, arbeiteten als Lagerarbeiter, als Paketfahrer für Subunternehmen, trafen auf Lkw-Fahrer, die menschenunwürdig vor den Logistikzentren campierten.
Und sie verfolgten den Weg von Retouren aus Deutschland nach Osteuropa, um herauszufinden, ob die Retouren dort vernichtet werden. In der aktuellen »Team-Wallraff«-Ausgabe: »Undercover bei Amazon – wie der Weltkonzern seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausbeutet« , am 9. September 2021, um 20.15 Uhr, treffen die Reporter von »Team Wallraff« auf Sozial- und Lohndumping, auf ein System der Ausbeutung, Überwachung und Angst.
Bei Amazon ist der Kunde König. Was aber ist der Mitarbeiter im Versand-Imperium von Gründer Jeff Bezos, der aktuell der reichste Mann des Planeten ist? Betreibt das Unternehmen etwa im Namen der Profitoptimierung eine systematische Ausbeutung? Die »Team Wallraff«-Reporter recherchierten in ganz unterschiedlichen Unternehmensbereichen undercover – mit erschreckenden Ergebnissen.
Verträge bei Subfirmen, Kontrolle durch Amazon – das trickreiche System bei den Paketzustellern
Über ein Angebot bei eBay Kleinanzeigen wird »Team-Wallraff«-Reporter Alexander Römer zum Paketausfahrer für Amazon in Berlin. Angestellt ist er allerdings nicht bei Amazon direkt, sondern findet sich stattdessen in einem undurchsichtigen Firmengeflecht wieder. Die Vertragsunterzeichnung findet bei der Sicherheitsfirma Pignus GmbH als Subunternehmen statt. Diese wiederum beschäftigt ein weiteres Subunternehmen. Unserem Reporter wurden 11elfEuro brutto die Stunde angeboten, doch letztendlich erhielt er einen Stundenlohn von gerade einmal 7,78 Euro brutto die Stunde, da die Arbeit in der vorgegebenen Zeit nicht zu leisten war. Das ist weit unter Mindestlohn und ein klarer Verstoß. Laut Arbeitsrechtler Dr. Sven Jürgens ist Amazon als oberster in der Pyramide bei Schwierigkeiten fein raus. Gleichzeitig entsteht ein Preisdruck bei den Subunternehmen.
Doch das ist nur der Anfang einer langen Reihe von aufgedeckten Missständen: Zuspätkommen, zu schnelles Fahren, zu langsames Arbeiten, Kundenbeschwerden – all das gibt Strafpunkte auf dem »Konto« der Fahrer. Bei zu vielen Strafpunkten oder Kundenbeschwerden soll die Kündigung drohen. Erfasst wird dies per Scanner und einer App auf dem Handy. Amazon weiß so zu jedem Zeitpunkt über den Fahrer und seine Tour Bescheid, die mit Pause neun Stunden haben soll - mit der aber kaum ein Fahrer auskommt. Schafft er es doch, bekommt er am Folgetag noch mehr Pakete zugeteilt oder muss Kollegen helfen. Ist die Arbeitszeit überschritten, wird sich per Scanner im Account eines Kollegen angemeldet – und das Arbeitszeitgesetz kann so mit einem Trick umgangen werden. Am Ende hat der Reporter unter Mindestlohn verdient. Alexander Römer: »Bei meiner Undercover-Recherche habe ich erlebt, wie undurchsichtig die Firmengeflechte sind. Subunternehmer geben Aufträge an weitere Subunternehmer weiter. Ich wusste zu Beginn meiner Tätigkeit nicht einmal, wer genau mein Arbeitgeber ist. Amazon kann hier nicht einfach die Verantwortung abgeben und muss für mehr Transparenz sorgen, so leiden die Schwächsten, die Fahrer und den Profit streicht Amazon ein.« Wir haben die Firma Pignus, die als Subunternehmer für Amazon Pakete ausfährt, mit unseren Recherchen konfrontiert, aber nur Antwort von einem Anwalt erhalten: »Fragen zu Amazon oder anderen Kunden werden grundsätzlich nicht beantwortet.«
Wir haben natürlich auch Amazon mit all unseren Recherchen konfrontiert. Zu den Vorwürfen, die Pignus betreffen, schreibt uns Amazon: »Wir lassen derzeit unsere Zusammenarbeit mit Pignus Berlin Sicherheitsservice ruhen und untersuchen Ihre Behauptungen. Wir haben den Partner außerdem angewiesen, nicht weiter mit anderen Unternehmen zusammenzuarbeiten, um Amazon Pakete zuzustellen.«
Lohndumping – die Ausbeutung der Lkw-Fahrer aus Osteuropa und Weißrussland
Auch bei den LKW-Fahrern, die im Auftrag von Amazon unterwegs sind, findet unser Reporter Alexander Römer Missstände vor. Sie kommen oft aus Osteuropa oder Weißrussland, sind bei einer Sub-Firma in Litauen beschäftigt und werden mit Minibussen zu ihren LKW-Einsätzen in Deutschland gebracht. Eigentlich steht ihnen in Deutschland ein Mindestlohn von 9,60 Euro die Stunde zu. Da sie aber für eine litauische Spedition arbeiten, wird ihnen kein Mindestlohn gezahlt. So sparen die Spedition und Amazon gewaltig. Warten die Fahrer vor den Toren Amazons auf die Beladung, stehen ihnen oft nur Dixiklos zur Verfügung.
Amazon schreibt uns dazu: »Um den Fahrer:innen die Wartezeit so angenehm wie möglich zu gestalten, bieten wir an allen unseren Standorten Trucker-Lounges mit Kaffeemaschinen, Essensautomaten und Toiletten an. Außerdem haben wir Toiletten, die rund um die Uhr zugänglich sind, auch von außerhalb des Geländes.«
Der Mensch als Maschine – die Angstkultur in den Amazon-Werken
Wie aber steht es um die Mitarbeiter, die direkt bei Amazon beschäftigt sind? An knapp 50 Standorten in ganz Deutschland werden die Produkte sortiert und verpackt, damit die Kunden in Prime-Qualität ihre Lieferungen erhalten. Reporter Daniel fängt über eine Zeitarbeitsfirma als Lagerarbeiter bei Amazon in Krefeld an. 350.000 Pakete sortiert er hier mit seinen Kolleg:innen pro Tag. Alle Angestellten erhalten einen Scanner, der einiges mehr erfassen kann. Ein Informant erklärt ihm, dass damit auch die Leistung und die Pausenzeiten der Mitarbeiter überwacht und dann an die jeweiligen Manager weitergegeben werden sollen. Auch Kameras überwachen jeden Schritt der Mitarbeiter – und können sogar die erfassten Bilder analysieren – wie ein IT-Experte erläutert. Nur Zufall? Oder erfolgt hier eine systematische Kontrolle des Mitarbeiters und seiner Leistung?
Amazon schreibt dazu: »Die Kameras, die wir in unseren Gebäuden einsetzen, […] sind mit den europäischen Vorschriften konform. […] Feste Arbeitsplätze werden nicht gefilmt oder sind technisch geschwärzt. Die entsprechenden Bilder sind nur für autorisiertes Personal, wie Techniker oder Sicherheitspersonal zugänglich. Vorgesetzte von Mitarbeiter:innen haben keinen Zugriff auf diese Kamerabilder.«
Ein echter Knochenjob erwartet den Reporter dann als sogenannter »Picker« im Amazon-Werk Duisburg. Bis zu 3.200 Pakete am Tag wuchtet er auf die Transportbänder, 17 Kilometer legt er dabei in einer Schicht zurück. Ruhepausen während der Arbeitszeit werden durch die Vorarbeiter untersagt. Für den Toilettengang bedarf es der Erlaubnis des Vorarbeiters – längere Wartezeiten bis der Ersatz eintrifft, müssen Mitarbeiter im Duisburger Werk aushalten. Eine Zeugin erzählt uns: Kollegen schleppen sich auch krank an ihren Arbeitsplatz, aus Angst, ihre Stelle zu verlieren. Sie selbst sei auch trotz einer schweren Verletzung arbeiten gegangen – aus Angst, keinen Festvertrag zu bekommen. Ein Mitarbeiter unterzieht sich sogar im Urlaub notwendiger Operationen, da ihm sonst die Kündigung drohe.
Ähnliche Missstände findet auch »Team Wallraff«-Reporter Giuliano im Amazon-Werk in Bad Hersfeld vor. Auch hier erfassen Scanner jede Bewegung der Mitarbeiter, auch hier herrscht eine Kultur der Angst. Petra Kusenberg, »Verdi«: »Viele der Kollegen und Kolleginnen kommen aus Syrien und anderen Ländern. Ich glaube, wir haben 14 oder 15 Sprachen hier bei Amazon und das ist ganz bewusst so gemacht. Die kennen keine Gewerkschaften, die wissen nicht, was Arbeitsrecht ist, sie wissen gar nicht, was sie in Deutschland an Rechten haben und deshalb lassen sie sich alles gefallen.«
Amazon schreibt auf unsere Anfrage dazu: »Wir widersprechen entschieden jeder Behauptung, dass wir uns nicht um die körperliche und psychische Gesundheit aller Mitarbeiter kümmern. Wir arbeiten kontinuierlich daran, alle Mitarbeiter bei ihrer Arbeit zu unterstützen, bieten ihnen regelmäßige Pausen, individuelle Betreuung und Schulung sowie ein angemessenes Arbeitstempo.«
Im Ausland vernichten – trickreiche Sparpotentiale bei Retouren
Einsparpotentiale scheint Amazon auch durch die Vernichtung von Retouren in Osteuropa zu nutzen. Die Recherchen von »Team Wallraff« legen nahe, dass so das Kreislaufwirtschaftsgesetz umgangen werden könnte. Dies besagt, dass eine Retoure innerhalb Deutschlands nicht direkt vernichtet werden darf, sondern im Sinne der Abfallhierarchie »entsorgt« und damit gegebenenfalls weiter eingesetzt oder recycelt werden muss. Ist dies beim Versandriesen etwa gängige Praxis? Reporter Römer bestellt T-Shirts und einen Kopfhörer bei Amazon und versieht die Retouren mit einem Tracker. Diesem folgt er quer durch Europa bis nach Polen zu einem Amazon-Werk in der Nähe von Kattowitz. Im Zuge der Recherche kann er Kontakt zu einer Amazon-Mitarbeiterin aufnehmen, die als »Zerstörerin« in diesem Werk arbeitet. Sie berichtet, dass Deutschland dort den größten Markt darstellen soll und in diesem Werk sämtliche Produkte vernichtet werden sollen – dabei handele es sich nicht nur um Retouren, sondern auch um Neuware. »Team Wallraff« liegt entsprechendes Beweismaterial vor. Gewerkschafterin Magdalena Malinowska – sie arbeitet selbst in einem Amazon-Werk – vermutet, dass Amazon die Retouren ins Ausland bringt, da dort nicht kontrolliert wird, was zerstört wird. Denn in Deutschland wäre es ein klarer Verstoß gegen das Kreislaufwirtschaftsgesetz.
Hier schreibt uns Amazon: Unsere Priorität ist der Wiederverkauf, die Spende oder das Recycling dieser Gegenstände – in dieser Reihenfolge. Nur als allerletztes Mittel werden wir Produkte zur energetischen Verwertung schicken. Für uns, wie auch für andere Händler, ist dies die ökologisch und wirtschaftlich unattraktivste Option. Der Umgang mit zurückgegebenen oder unverkauften Waren ist für alle Händler eine Herausforderung.
Wie rücksichtslos ist der größte Versandhändler tatsächlich? Immer wieder kritisieren Gewerkschaften und Mitarbeiter:innen die Arbeitsbedingungen bei Amazon. Druck, Überwachung, verheizen und feuern? Wird der Mensch hier wie eine Maschine behandelt? Ist er völlig austauschbar? Bei seinen monatelangen Recherchen traf »Team Wallraff« auf eine Vielzahl von Missständen, ein ausgeklügeltes System von Subunternehmen und eine effiziente Nutzung von gesetzlichen Spielräumen.
»Ein marktbeherrschender Weltkonzern, der solch exorbitante Gewinne erwirtschaftet und seine Belegschaft so systematisch ausbeutet, darf sich nicht länger der gesellschaftlichen Kontrolle entziehen. Wir brauchen eindeutige Gesetze und durchsetzungsstarke Politiker, die diesem extremen Missbrauch von Arbeitskraft endlich Einhalt gebieten«, kritisiert Günter Wallraff. »Für eine aufgeklärte Öffentlichkeit ist es wichtig, die Gefahren und den Schaden durch das System Amazon zu thematisieren. Das werden wir auch weiterhin tun!«
Im Anschluss zur aktuellen »Team Wallraff«-Ausgabe: »Undercover bei Amazon – wie der Weltkonzern seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausbeutet« am 9. September 2021, um 20.15 Uhr, wird Reporter Alexander Römer zu Gast bei Jan Hofer in »RTL Direkt« sein, sowie am Freitag, 10. September 2021, bei »Punkt 12«.
Undercover-Reporter Daniel Weigand wird über seine Erfahrungen am Freitag, 10. September 2021, in »Guten Morgen Deutschland« berichten.
Parallel zur TV-Ausstrahlung erscheint zudem eine neue Folge von »Team Wallraff – der Podcast« bei »Audio Now« und überall sonst, wo es Podcasts gibt. Redakteurin Dajana Pürsten spricht mit Günter Wallraff und Undercover-Reporter Daniel Weigand über die Recherchezeit bei Amazon und wie diese das eigene Konsumverhalten verändert hat. Außerdem erzählt Daniel, was er während seiner Undercover-Einsätze noch alles erlebt hat und wie diese ihn psychisch auch im Nachhinein noch beeinflussen.