Prof. Dr. Michael Rind ist Direktor der LWL-Archäologie für Westfalen. Das LWL-Archäologiemuseum deckt unter seiner Leitung bisher unbekannte Parallelen zu westfälischen Kulturlandschaften auf. Foto: T. Malter, LWL, Informationen zu Creative Commons (CC) Lizenzen, für Pressemeldungen ist der Herausgeber verantwortlich, die Quelle ist der Herausgeber
Herne/Münster (lwl). Ab dem 23. September 2021 bringt das LWL-Museum für Archäologie Stonehenge nach Herne. Dank der zehn Meter hohen Ausstellungshalle entsteht am Europaplatz in Herne die europaweit erste Rekonstruktion des berühmten englischen Steinkreises in Originalgröße. Unter der Leitung von Prof. Dr. Michael Rind decken Archäologen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) in der neuen Sonderausstellung bisher unbekannte Parallelen zu westfälischen Kulturlandschaften mit Megalithgräbern und Grabenwerken auf.
Für die, die Stonehenge noch nicht kennen: Welche Bedeutung hat der englische Steinkreis?
Michael Rind: Stonehenge ist für die Prähistorie Europas von allergrößter Bedeutung. Es ist ein Monument, das in dieser Form nur ein einziges Mal existiert. Es gibt natürlich weitere Beispiele für Steinkreise auf den britischen Inseln, aber keiner dieser Kreise ist so gebaut wie Stonehenge, keiner hat eine so lange Geschichte, keiner kann verbunden werden mit der Entstehung einer rituellen Landschaft über Jahrhunderte hinweg.
Was heißt »rituelle Landschaft«?
Die rituelle Landschaft ist der Kern unserer Ausstellung. Wir wollen nicht Stonehenge als zentrales Monument allein präsentieren, sondern es geht darum zu zeigen, wie eine ganze Kulturlandschaft sich entwickelt und wie Stonehenge als Höhepunkt dieser Entwicklung gebaut und immer wieder auch umgebaut worden ist.
Letztlich wollen wir zeigen, dass der Mensch schon lange vor der Industrialisierung Landschaft entscheidend verändert und geprägt hat. Wie das aussah, in einer Zeit, als es noch keine schriftlichen Überlieferungen gab, davon legt die Archäologie Zeugnis ab.
Rituell ist diese Landschaft deshalb, weil sie vor allem von religiös motivierten Handlungen geprägt war. Ähnliche Zeugnisse einer tausende Jahre alten Kulturlandschaft finden sich auch bei uns in Westfalen.
Warum ist Stonehenge noch heute so bedeutend und Anziehungspunkt für eineinhalb Millionen Besucher:innen im Jahr?
Stonehenge zählt zum Weltkulturerbe und ist immer noch ein Rätsel. Wir kennen zwar schon viele technische Fakten über das Monument, warum es aber letztlich gebaut wurde, was die Beweggründe waren, ist nach wie vor nicht wirklich klar. Das macht einen Teil der Faszination aus. Außerdem fragen sich viele, wie dieser Bau mit vergleichsweise einfachen Hilfsmitteln möglich war und lassen sich von der Monumentalität beeindrucken.
Gewaltige Trag- und Decksteine, sogenannte Trilithen, muten an wie riesige Tore. Erstaunlich sind die weiten Transportwege der Steine. Die kleineren »Bluestones« kommen aus bis zu 240 Kilometer Entfernung. Die größeren Steine, Sarsen genannt, mussten zirka 25 bis 30 Kilometer zurücklegen. Sie wiegen aber bis zu 40 Tonnen. Eine architektonische und bautechnische Meisterleistung, die knapp 5.000 Jahre später noch steht. Den Verbund der großen Steine mit Zapfen-, Nut- und Federverbindungen gibt es übrigens auch nur hier.
Welche Parallelen gibt es zwischen Westfalen und Stonehenge?
Auch in Westfalen werden, wie in der Landschaft von Stonehenge, Monumente errichtet, die die Landschaft dauerhaft markieren und Erinnerungsorte schaffen. In Westfalen wurden Megalithgräber schon 3500 vor unserer Zeitrechnung – also 1.000 Jahre vor Stonehenge – aus großen Steinen errichtet. Beide gehören aber letztlich zum selben Phänomen des Bauens mit großen Steinen, das über weite Teile Europas, aber in unterschiedlicher regionaler Ausprägung, zu finden ist.
Parallelen gibt es auch bei der Errichtung von Graben- und Erdwerken, die in beiden Landschaften gleichzeitig auftreten. In Westfalen sehen sie ähnlich aus wie um Stonehenge. Da lassen sich direkte Parallelen zum englischen Monument ziehen, auch was Logistik und Arbeitsaufwand anbelangt. Außerdem hatten die Grabenwerke ähnliche Funktionen. Es wurden rituelle Feste gefeiert und Erinnerungs- bzw. Gedenkorte geschaffen, die jahrhundertelang genutzt worden sind.
Ein großer Unterschied ist aber, dass sich in Stonehenge die Steinzeitarchitektur bis heute ganz offen in der Landschaft zeigt. In Westfalen muss man schon genauer hinschauen: Hier verstecken sich die Reste der prähistorischen Anlagen im Boden, sind oft nur noch als Verfärbungen zu identifizieren. Oder sie sind größtenteils zerstört, wie viele Megalithgräber, deren Überreste man nur noch mühsam durch gezielte Ausgrabungen erforschen kann, so wie zum Beispiel in Erwitte-Schmerlecke im Kreis Soest.
Wo kann man ansonsten solche Orte in Westfalen heute noch sehen?
In Westfalen gibt es einige spannende Orte in der Landschaft zu entdecken, die uns mitnehmen auf eine Reise zurück in die Jungsteinzeit. Dazu gehören die Großen und Kleinen Sloopsteene in Lotte im Kreis Steinfurt, erstere das besterhaltene Megalithgrab Westfalens. Auch die Düwelsteene bei Heiden im Kreis Borken sind eine Reise wert. Wer sich die Galeriegräber Ostwestfalens anschauen möchte, fährt am besten ins Altenautal bei Paderborn. Hier sind noch fünf Gräber in nur sieben Kilometer Entfernung zueinander erhalten: Lichtenau-Atteln I ist teilrekonstruiert, von Atteln aus hat man einen fantastischen Fernblick. Zu bedenken ist aber, dass viele dieser Anlagen früher ein ganz anderes Erscheinungsbild in der Landschaft hatten: so waren die meisten Steingräber von einem Hügel überdeckt und vermutlich begrünt.
Welche Rolle spielt da die virtuelle Archäologie?
Virtuelle Rekonstruktionen spielen eine immer größere Rolle. Einige Ergebnisse unserer Arbeit sind als Medienstationen ab dem 23. September 2021 in der Sonderausstellung »Stonehenge« zu sehen. Klar ist: Was sich heutzutage im Gelände zeigt, sah früher oft ganz anders aus. Beeindrucken uns heute die mächtigen Findlinge in der Landschaft, war das in der Jungsteinzeit ganz anders: Die Steinarchitektur diente als Grabkammer, war aber von außen nicht sichtbar.
Dennoch waren die Langhügel sichtbare Markierungen in der Umgebung und bedeutende Erinnerungsorte für die Menschen. Um sich ein Bild von der damaligen Kulturlandschaft machen zu können, sind digitale Nachbildungen unverzichtbar. So können wir Monumente und Funde buchstäblich wiederbeleben und erfahren Neues über vermeintlich längst erforschte Bodendenkmäler.
Wieso arbeiten Sie bei der Ausstellung mit Kolleginnen und Kollegen aus Wien zusammen?
Im LWL-Archäologiemuseum widmen wir uns immer wieder globalen kulturgeschichtlichen Themen. Die LWL-Archäologie für Westfalen, zu der auch das Museum gehört, kooperiert schon seit längerem mit dem Ludwig Boltzmann Institut für archäologische Prospektion und virtuelle Archäologie, kurz LBI ArchPro, in Wien. Anlass für uns war der Plan einer eigenen Prospektionsabteilung, also einer Abteilung, die mit geophysikalischen Messmethoden archäologische Befunde im Gelände aufspürt, ohne dass sie dafür ausgegraben werden müssen. Das LBI ist europaweit führend auf dem Gebiet und der ideale Ansprechpartner. Seit 2018 können wir Bodendenkmäler nun selbst zerstörungsfrei mittels geomagnetischer und hochauflösender Radar-Messungen unter der Erde dokumentieren.
Gleichzeitig zu diesen Planungen hat das LBI ArchPro archäologische Untersuchungen rund um Stonehenge durchgeführt. Aus dem Forschungsprojekt »Stonehenge Hidden Landscapes«, zu deutsch: Stonehenge versteckte Landschaften, ist eine Ausstellung in Österreich entstanden, die sehr erfolgreich war. Diese Ausstellung bringt die LWL-Archäologie für Westfalen nun nach Herne – ergänzt um die Eins-zu-Eins-Rekonstruktion, Perspektiven auf die Kulturlandschaft Ruhrgebiet und Westfalen-Lippe sowie aktuelle Forschungsergebnisse des LBI, die erst im vergangenen Jahr weltweit für Furore sorgten.
Zum Interviewpartner
Prof. Dr. Michael Rind ist seit 2009 Direktor der LWL-Archäologie für Westfalen und damit der Landesarchäologe in Westfalen. Zur Archäologie des LWL gehören neben der archäologischen Bodendenkmalpflege für Westfalen-Lippe auch die drei archäologischen Museen des LWL in Herne, Haltern und Paderborn.
Seit 2015 ist Rind Vorsitzender des Verbandes der Landesarchäologen, seit September 2013 gehört er dem Vorstand des Deutschen Verbandes für Archäologie (DVA) an. Seit 2017 ist er Ordentliches Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts.
Zur Sonderausstellung »Stonehenge – von Menschen und Landschaften«
Vom 23. September 2021 bis zum 25. September 2022 zeigt das LWL-Museum für Archäologie in Herne die Geschichte des berühmtesten archäologischen Denkmals Europas in seiner einzigartig erhaltenen vorgeschichtlichen Umgebung. Die Landschaft von Stonehenge wird der gleichzeitigen Entwicklung und gegenwärtigen menschengemachten Landschaften in Westfalen gegenübergestellt. Gemeinsam mit dem Ludwig Boltzmann Institut für Archäologische Prospektion und Virtuelle Archäologie (»LBI ArchPro«) werden die neuesten Forschungsergebnisse präsentiert.
Der berühmte Steinkreis in Südengland ist ein Beispiel für vorgeschichtliche Bau- und Ingenieurskunst und ihr monumentaler Höhepunkt. Er war Teil einer rituellen Landschaft mit jahrtausendealter Geschichte. Die Tiefe dieser Geschichte wird in Herne und mit der westfälischen Landschaft gestern und heute in Beziehung gesetzt. In der Ausstellung bewegen sich die Besucher durch analoge und virtuell rekonstruierte Landschaften und begeben sich so auf eine Reise durch Raum und Zeit. Sie erleben die Ausmaße des Steinkreises durch detailgetreue Eins-zu-Eins-Repliken. Ausgewählte Funde der englischen und westfälischen Archäologie zeigen, mit welchen Mitteln die Landschaften geformt wurden, und bringen den Besucher:innen den prähistorischen Menschen und seine Lebenswelten näher. Mit einem Ausblick auf die moderne Industrie- und Kulturlandschaft Ruhr spannt die Ausstellung einen Bogen bis in die Gegenwart.