Flucht nach vorn, Kommentar von Joachim Herr zu Knorr-Bremse
Frankfurt (ots) Hella ist also das erste Ziel: Auch nach dem Tod von Heinz Hermann Thiele strebt Knorr-Bremse nach kräftigem Wachstum, inklusive Akquisitionen. Der neue Vorstandsvorsitzende Jan Mrosik verfolgt die Agenda des im Februar gestorbenen Patriarchen ohne lange Einarbeitungszeit. Aufsichtsratschef Klaus Mangold fühlt sich ohnehin Thieles Erbe verpflichtet und unterstützt einen tatkräftigen und mutigen Vorstand. Der zögerliche Bernd Eulitz, Mrosiks Vorgänger, hatte ja schon nach zehn Monaten seine Sachen packen müssen.
Im Kerngeschäft, den Bremsen für Schienen- und Nutzfahrzeuge, kann Weltmarktführer Knorr-Bremse kaum mehr mit Übernahmen von Unternehmen wachsen – allein wegen der Konzentration des Marktes. Chancen sucht das Management deshalb in angrenzenden Feldern. Dazu gehört Hella. Das Unternehmen, dessen Mehrheit wie im Fall von Knorr-Bremse, (noch) in Familienhand ist, ist zwar vor allem als Hersteller von Lichttechnik für Autos bekannt. Es bietet aber auch Elektronik für Fahrzeuge an.
Knorr-Bremse dürfte es in erster Linie auf die Sensoren und Radartechnik von Hella fürs autonome Fahren abgesehen haben. Das Münchner Unternehmen ist schon auf diesem Gebiet tätig und bietet Systeme für das selbständige Fahren von Nutz- und Schienenfahrzeugen an. Eine Kooperation mit Continental gibt es seit einigen Jahren.
Mit mehr Komponenten für solche Technik aus eigener Fertigung und weniger von Zulieferern würde Knorr-Bremse einem Markttrend folgen. Dieser bietet Chancen für eine höhere Marge, und spätestens die Corona-Pandemie verdeutlicht, wie wichtig die Kontrolle der Lieferketten ist. Zudem gehört Wabco, der größte Konkurrent im Nutzfahrzeugsegment, mittlerweile zum ZF-Konzern. ZF kombiniert damit ebenfalls das Geschäft mit Elektronikkomponenten und Bremsen und verschärft so den Wettbewerb mit Knorr-Bremse. Auch deshalb tritt das Unternehmen die Flucht nach vorn an.
Ob Knorr-Bremse zum Zug kommt, wird nicht nur vom Preis abhängen, den die Münchner der Hella-Eigentümerfamilie Hueck im Wettstreit mit Finanzinvestoren und anderen Interessenten bieten. Verkaufswillige Familien achten besonders auf das Gesamtkonzept eines Erwerbers und haben die Verantwortung für Arbeitsplätze, vor allem in ihrer Heimatregion, im Blick. Im Fall von Knorr-Bremse wäre die entscheidende Frage, was mit dem Lichtgeschäft von Hella für Pkw geschieht. Der Einstieg in dieses fremde Segment wäre für Knorr-Bremse ein beträchtliches Risiko – und wohl nicht in Thieles Sinn.